Thomas Rettl: „Wenn du etwas Schräges machst, dann mach es mit hoher Qualität“

Anfang Juni feierte das Kärntner Traditionsunternehmen „Rettl 1868 Kilts & Fashion“ sein 150-jähriges Bestehen. Seit mehr als einem Viertel Jahrhundert leitet Thomas Rettl in 5. Generation den Familienbetrieb und erzählt im MEISTERSTRASSE-Interview, wie er auf die Idee kam, Kärntner Kilts zu produzieren, wie Ihn Kritik motiviert und warum man die Macht des Internets nicht unbedingt überbewerten sollte.

 

 

Gratulation zum 150-jährigen Bestehen von Rettl 1868! Am Anfang der Erfolgsgeschichte stand die „Uniformierungs-Anstalt Josef Rettl“, die unter anderem für k. u. k. Staatsbeamte und Offiziere Uniformen schneiderte …
Eigentlich lässt sich unsere Familiengeschichte sogar bis 1624 zurückverfolgen. 1868 hat Josef Rettl jene Firma gegründet, die danach in direkter Linie weitergegeben wurde – aber schon sein Vater war Schneidermeister und auch davor gab es bereits Schneider in unserer Familie.

War es für Sie von Anfang an klar, dass Sie den Betrieb übernehmen würden oder gab es Überlegungen, einen anderen Lebensweg einzuschlagen?
Ich bin ein kreativer Mensch und wollte eigentlich Künstler werden. Ich habe kleinere Filme gedreht, später habe ich auch mein eigenes Lokal betrieben, in dem ich gekocht habe. Aber ich war der einzige Sohn, also war allen klar, dass ich den Betrieb eines Tages übernehmen werde. Übernehmen muss. Dabei war es damals eine Zeit lang gar nicht klar, ob die Firma überleben würde. Viele Betriebe unserer Größenordung sind Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre Pleite gegangen. Wir haben gerade noch den Kopf aus der Schlinge gezogen …

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Thomas Rettl mit Ehefrau Nathaly und seinen Eltern. Vater Hans Rettl III, der mit seinen 87 Jahren bis heute Junior genannt wird, und Mutter Gerti stehen dem Betrieb noch immer mit Rat und Tat zur Seite. (Foto: Simone Attisani)

Wie sieht Ihr persönlicher Werdegang aus?
Ich habe die HAK absolviert und mich in der Praxis weitergebildet. In den Ferien habe ich immer wieder in Italien gearbeitet, später war ich in London und auch ein Jahr in Wien. Ich war aber eigentlich immer mehr im Handel, die Schneiderei habe ich nur so nebenbei gelernt. Und auch, wenn wir seit langer Zeit Partner der MEISTERSTRASSE sind: Ich selbst habe nie die Meisterprüfung abgelegt. Bevor ich auf die Berufsschule gegangen bin, habe ich schon recht viel von der Welt gesehen gehabt. In der Ausbildung wollten sie mir Dinge beibringen, von denen ich wusste, dass ich damit in der Realität nicht überleben würde …

Aber Sie haben schon einen handwerklichen Hintergrund?
Ja, natürlich! Ich habe als Sechsjähriger mit der elektrischen Nähmaschine aus Stoffresten meine erste eigene Brieftasche genäht. Als ich den Betrieb übernommen habe, hatten wir gerade noch zwei, drei Leute in der Änderungsschneiderei. Ich habe dann erst wieder begonnen, eine Eigenlinie aufzubauen. Ich war 25, als ich die erste Kilt-Kollektion entworfen habe. Einen Teil haben wir bei uns im Haus genäht, aber ich musste mir auch einen Produktionsbetrieb in Österreich suchen, der meine Ideen umsetzt.

Das muss doch ein enormes Risiko gewesen sein, als Kärntner Traditionsunternehmen ausgerechnet Kilts zu schneidern …
Absolut. Aber es gibt natürlich einen Hintergrund für diese Idee: Wir haben in Villach diesen „Schottenclub“ (Anm.: dessen Gründungspräsident „Thomas McFetzn“ ist) und dafür habe ich mir selbst eine kärntnerisch-schottische Freundschaftstracht geschneidert, indem ich einen Kärntner Anzug mit einem Kilt kombiniert habe. Das Heimatwerk und diverse Trachtenvereine haben sich aufgeregt, weil ich angeblich den Kärntner Anzug verarscht hätte! Doch Druck erzeugt ja bekanntlich Gegendruck und das hat mich zusätzlich motiviert. Ich habe begonnen, Nachforschungen anzustellen und bin draufgekommen, dass die Karos eigentlich aus Österreich stammen und nicht aus Schottland. Es war aber nie als Geschäftsmodell gedacht, denn damals, vor 20 Jahren, war die Tracht eigentlich ziemlich out. Jetzt ist sie aber wieder in …

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Tracht, nicht zuletzt aus dem Hause Rettl 1868, ist längst auch wieder bei der jüngeren Generation angesagt. (Foto: Jens August)

Mittlerweile ist das Kärntner Karo Ihre Trademark.
Ja, wir haben damit praktisch eine neue Kärntner Identität gestiftet. Es besteht ja aus den Farben Braun (für die Erde), Grün (für die Wälder), Blau (für die Seen) sowie den Farben der Kärntner Fahne, nämlich Rot, Gelb und Weiß. Die ersten Kilts haben wir übrigens noch in Schottland fertigen lassen. Erst als die Nachfrage größer wurde, konnte ich eine Produktion in Österreich aufbauen.

Wo wäre Rettl 1868 heute ohne die Ideen mit dem Kilt und dem Kärntner Karo?
Ich habe den Betrieb mit einem Geschäft in Villach und ein, zwei Verkäuferinnen übernommen. Heute haben wir vier Geschäfte und 20 bis 25 Leute alleine im Vertrieb. Außerdem lassen wir in Kärnten und der Steiermark produzieren, wo rund 20 Leute ausschließlich für uns im Einsatz sind.

 

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Thomas Rettl ist Stammgast bei MEISTERSTRASSE in Residence am Arlberg und begeistert regelmäßig mit seinem eigenen Laufsteg. Mittlerweile hat er im Hus 8, einem der ältesten Gebäude in Lech am Arlberg, seinen eigenen Shop eröffnet.

Sie haben nie überlegt, billiger im Ausland produzieren zu lassen?
Anfangs mussten wir in Österreich produzieren, weil die Stückzahlen zu gering waren. Mittlerweile haben wir aus der Not aber eine Tugend machen können. Es ist für unsere Kunden wieder ein interessanter Punkt, dass wir regional fertigen lassen. Alles können wir nicht hier machen lassen, aber 80 Prozent der Wertschöpfung passieren in Österreich. Zum Beispiel lassen wir fast all unsere Stoffe in Österreich weben. Ich habe aber vor kurzem einen italienischen Seidenweber entdeckt, der noch auf 300 Jahre alten Webstühlen Originalmuster von damals herstellt und unter anderem gerade einen Stoff für Papst gewebt hat. So einen Stoff lasse ich jetzt auch bei ihm weben, damit sich unsere Kunden nicht nur wie Könige fühlen können, sondern auch wie der Papst (lacht).

Schneidern Sie eigentlich manchmal auch selbst?
Nein. Ich könnte es zwar, aber dafür habe ich einfach keine Zeit. Früher war es in den großen Schneiderein aber auch nicht anderes. Mein Vater und mein Großvater haben auch nicht genäht, maximal zugeschnitten. Sie selbst waren für den Vertrieb zuständig, für den Rest haben sie auch schon ihre Leute gehabt. Ich kümmere mich heute vor allem um Vertrieb und Marketing.

Als Firmenchef stehen Sie selbst bei Messen am Stand und verkörpern Rettl 1868 mit großem Engagement nach außen. Wie sehen Sie selbst Ihre Rolle im Betrieb?
Ich sehe mich als Überbringer der frohen Botschaft (lacht). Ich darf den Leuten das wunderbare Gefühl vermitteln, Kilts zu tragen und ich versuche ihnen näherzubringen, was wir als Betrieb für sie machen können. Ich sehe mich vor allem als Mastermind für die großen Ideen und bin auch immer wieder daran interessiert, neue Projekte voranzubringen. Zum Beispiel bin ich gerade dabei, einen Eishockey-Club mit coolen, modernen Jackets salonfähig zu machen. Ich sammle aber auch historische k. u. k. Marineuniformen und versuche, sie so originalgetreu wie möglich nachzuschneidern. Aber für solche Spielereien habe ich nur Zeit, weil ich im Hintergrund sehr gute Leute habe und weil sich meine Frau Nathaly perfekt um den laufenden Betrieb kümmert.

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Wer hart arbeitet, kann auch ordentlich feiern. Und zu feiern gibt es Grund genug, zum Beispiel das 150-jährige Bestehen der früheren „Uniformierungsanstalt“. (Foto Kampitsch)

Wie hat sich die Geschäftswelt aus Ihrer Sicht in den vergangen 25, 30 Jahren verändert? Durch das Internet ist die Welt viel kleiner geworden, die Möglichkeiten, aber auch die Konkurrenz viel größer.
Ich sehe das Thema entspannt. Ich bin innovativ, muss aber nicht immer der Erste sein, der auf einen Zug aufspringt. Bei mir hat es zum Beispiel recht lange gedauert, bis mir meine Mitarbeiter eingeredet haben, dass auch ich ein Handy brauche. Sie wollten nicht mehr alle Kaffeehäuser durchtelefonieren, bis sie mich endlich gefunden haben. Aber natürlich ist klar, dass das Internet sehr wichtig ist. Wenn man, wie wir, ein ganz spezielles Produkt anbietet, dann finden einen die Leute heute im Internet vielleicht ein bisschen leichter als früher. Aber ohne spezielles Produkt nützt dir das Internet auch nichts. Wir haben vor 20 Jahren unseren ersten kleinen Online-Shop eröffnet, aber mein erstes Gefühl war, glaube ich, schon damals richtig: Hochwertige Textilien wirst du immer angreifen und vor allem anprobieren wollen, bevor du sie kaufst, du willst persönlich beraten werden und die Stücke im Optimalfall auch noch perfekt angepasst bekommen! Das Internet ist heute genauso ein Werkzeug wie das Telefon – mehr aber auch nicht. Natürlich muss man ein Webseite haben und natürlich ist der Betrieb auf Facebook und Instagram vertreten, man darf es aber auch nicht überbewerten. Ich persönlich nutze diese Plattformen privat nicht.

Stichwort „hochwertige Textilien“: Sind sie mit ein Grund, warum Rettl 1868 gegen das riesige Angebot an Billigwaren bestehen kann?
Natürlich hätten auch wir mir deutlich günstigeren Stoffen arbeiten können und dann hätten wahrscheinlich viel mehr Leute bei uns eingekauft. Aber diese billigeren Produkte hätten sie dann vielleicht ein-, zweimal angezogen und dann nie wieder. Wenn du, wie wir, etwas Schräges machst, dann musst es mit hoher Qualität machen. Und natürlich nutzt dir die längste Firmentradition nichts, wenn du nicht immer am Puls der Zeit bleibst. Was bei uns ein großer Vorteil war und ist, ist die Weltoffenheit: Mein Großvater war auf der Walz, er war zum Beispiel in Dresden und in Paris, mein Vater hat ebenfalls in London gelernt. Mein Vater hat erkannt, dass es nicht reicht, Schneider zu sein, sondern hat sein Geschäftslokal eröffnet und neben den Anzügen auch Hemden und Krawatten verkauft. Dass ich dann eine eigene Modelinie entwickelt habe, war eine intuitive Entscheidung.

Sie haben nicht bewusst nach einer Nische gesucht, in der Sie gegen die internationale Konkurrenz bestehen können?
Doch, aber wir haben diese Nische nicht gefunden. Wir mussten diese Nische erst kreieren. Denn, ganz ehrlich: Wer braucht einen Kilt? Kein Mensch! Meine Aufgabe ist ja gar nicht so sehr, Kilts zu produzieren, sondern Gelegenheiten zu schaffen, bei denen Menschen diese Kilts tragen können. Deshalb machen wir selbst so viele Veranstaltungen wie zum Beispiel die 7. Alpen-Kilt-Wanderung am 23. Juni. Wenn du das lange genug durchziehst, dann kannst du erfolgreich sein. Es gehört halt heute zu den Aufgaben eines Handwerkers, dass er sich richtig vermarktet.

Wie wichtig ist für Ihren Erfolg der regionale Charme der Marke?
Mittlerweile sind wir über Kärnten hinausgewachsen, nicht zuletzt mit unseren Shops in Graz und Lech am Arlberg. Die Kollektion ist auch deutlich größer geworden, wir haben heute rund 500 Stoffe, die wir selbst designt haben und die extra für uns gewebt werden. Neben dem Kärntner Karo gibt es jetzt auch ein neutraleres Rettl-Karo beziehungsweise ein überregionales Kelten-Karo. Natürlich ist die Regionalität wichtig, aber wir wollen nicht zu kleinkariert, sondern überregional denken.

Ist Tracht heute noch beziehungsweise heute wieder zeitgemäß?
Die Frage ist ja: Was ist Tracht überhaupt? Und wer definiert, was Tracht ist? Trachten fallen ja nicht vom Himmel, sondern entwickeln sich. Irgendwann muss irgendwer irgendwo beginnen, etwas anzuziehen, dann machen es andere nach und irgendwann tragen es recht viele Menschen in der Region. Ganz profan betrachtet trägt ja ein Fußballfan, der sich einen Schal seines Lieblingsvereins umhängt, auch eine Tracht, mit der er seine Zugehörigkeit zu einer gewissen Region oder einer bestimmten Sinn-Gemeinschaft ausdrückt. Mittlerweile sehen das die Leute zum Glück etwas lockerer, früher durftest du ja nicht einmal daran denken, den Kragen einer bestehenden Tracht auch nur ein wenig abzuändern.

Was ist Ihre ganz persönliche Definition des Begriffs „Handwerk“ im 21. Jahrhundert?
Ich hinterfrage solche Begriffe ja sehr gerne und wann immer irgendwo „handgemacht“ draufsteht, dann denke ich mir: „No na, mit den Füßen hat noch kaum jemand etwas genäht oder geschnitzt.“ Aber im Ernst: Natürlich ist heute meistens ein maschinenunterstützter Anteil bei der klassischen Handarbeit dabei und die Frage ist, wann ist es noch handgemacht und wann schon vollautomatisiert. Was Handwerk heute ausmacht, ist nicht, ob etwas wirklich von Hand gefertigt ist. Ich kann 100 Leute in eine Manufaktur setzen und alle das gleiche machen lassen – aber ist das dann wirklich Handwerk? Für mich geht es beim Handwerk um Individualität. Und da sind wir wieder an dem Punkt, an dem Handwerk immer schon war: Wenn du ein modisch interessierter Mensch bist, der sich individuell einkleiden will, dann kannst du Outfits von großen Marken nach deinem eigenen Geschmack kombinieren – aber du hast keinen Einfluss aufs Produkt. Beim Handwerker hast du als Kunde die Möglichkeit, dich individuell einzubringen. Wir vermitteln dem Kunden das Gefühl, dass er mitdesignen darf und haben dann das Know-how, um seine Wünsche umzusetzen.

In welche Richtung wird sich das Handwerk aus Ihrer Sicht in den kommenden Jahren entwickeln?
Ich sehe die schöne Entwicklung, dass es einerseits wieder viele Menschen gibt, die sich Handwerk leisten wollen. Und ich sehe, dass das Handwerk vor allem bei den Jungen wieder „in“ wird. Eine Zeit lang war es sehr wichtig, dass du große internationale Marken getragen hast. Dagegen gibt es ja nichts zu sagen, das sind ja tolle, hochwertige Produkte. Aber mittlerweile ist wieder cool, wenn du Anzüge von einem Provinzschneider trägst. Es gibt immer mehr Menschen, die wissen wollen, woher ihre Produkte kommen. Das hat bei den Lebensmitteln begonnen. Wenn der Bio-Bauer in deiner Region wirklich sauber, verantwortungsvoll arbeitet, dann bist du eher bereit, etwas höhere Preise zu bezahlen. Das gleiche ist es mittlerweile bei uns: Wir achten ganz genau darauf, woher unsere Rohmaterialien kommen und schauen nicht nur auf Gewinnmaximierung. Die Nachfrage wäre vorhanden und wir könnten wahrscheinlich 40 statt vier Geschäfte haben – aber das schaffen wir mit unserer Produktion nicht und damit ginge es zu Lasten der Qualität. Ich habe keine Lust, unsere Produktion an irgendwelche Sub-Unternehmer auszulagern, nur damit ich vielleicht ein bisserl mehr Geld verdiene. Und ich muss auch nicht noch mehr arbeiten, denn mir ist meine Lebensqualität sehr wichtig.

 

Thomas Rettl, Jahrgang 1962, Villacher und Erfinder des Kärntner Karo hat den elterlichen Betrieb 1991/1992 übernommen, „so genau weiß man das aber nicht, denn der Übergang war fließend“. Neben dem Stammhaus in Villach gibt es heute Filialen in Klagenfurt, Graz und Lech am Arlberg sowie im Sommer einen Pop-Up-Store in Pörtschach. Rettl 1868 veranstaltet regelmäßig Events wie den Kilt-Skitag (im April), den Romantik-Kirchtag oder die Alpen-Kilt-Wanderung, die heuer am 23. Juni im Mölltal stattfindet; Stargast ist diesmal der bayrische Liedermacher Hans Söllner. Weitere Infos auf www.rettl.at